67. EUD-Bundeskongress in Stuttgart: Positionsbestimmung in stürmischen Zeiten

Unbeschwerte Europamomente gibt es dieser Tage selten. Der Bundeskongress der Europa-Union am 19. und 20. Oktober in Stuttgart hatte viele davon. Nicht nur bot die repräsentative Sparkassen-Akademie ideale Tagungsbedingungen. Auch die Stimmung der Delegierten und Gäste war geprägt von Wiedersehensfreude und kollegialem Miteinander. Schon am Freitagabend fand im Ratskeller ein geselliges Get Together statt, wo sich langjährige und neue Delegierte austauschen und kennenlernen konnten. Für Begeisterung sorgte auch das vielfältige Rahmenprogramm, das die Europa-Union Baden-Württemberg und der Kreisverband Stuttgart organisiert hatten. So konnten die Delegierten die „Villa Reitzenstein“, den Amtssitz des Ministerpräsidenten, besichtigen, beim Besuch im Haus der Geschichte Baden-Württemberg sogar föderalistische Ausstellungsstücke entdecken und an einer eindrucksvollen Baustellenführung des Bahnhofprojekts Stuttgart 21 teilnehmen.

 

Foto: Wolfgang List

Zu Gast bei (Europa-)Freunden
Im „Ländle“ wird Europa großgeschrieben. Dies wurde in den Beiträgen aller Festredner deutlich: „Das Miteinander im vereinten Europa ist in Baden-Württemberg Staatsraison“, unterstrich Schirmherr Winfried Kretschmer in seinem digitalen Grußwort. Als Export- und Innovationsstandort profitiere sein Bundesland nicht nur seit Jahrzehnten wirtschaftlich vom Binnenmarkt, es sei auch als Gesellschaft reicher geworden, so der Ministerpräsident mit Blick auf die vielen Städtepartnerschaften und die daraus entstandenen Freundschaften.

Diejenigen, die Europa madig machen oder Europa die Schuld an allem geben, liegen falsch, bekräftigte der Präsident des Sparkassenverbandes, Dr. Matthias Neth. „Die Möglichkeiten, die wir als Staat und Gesellschaft haben, liegen nur im geeinten Europa“, so Neth.

Staatssekretär Florian Hassler erklärte, dass der europäische Gedanke in Baden-Württemberg besonders verankert sei, nicht zuletzt explizit in der Landesverfassung. Die Landesregierung habe zudem ein Europaleitbild entwickelt, in dem sie sich zur Weiterentwicklung der EU bekenne. Auch fänden regelmäßig Kabinettssitzungen in der Landesvertretung in Brüssel statt. „In einer Zeit der Unsicherheit gibt uns die Europäische Union Zuversicht. Lassen Sie uns diese Überzeugung in die Gesellschaft tragen“, schloss Hassler.

Auch in der Rede von Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper am Abend wurden die Bedeutung der EU und die europäische Vernetzung Stuttgarts deutlich. „Die Baumeister Europas sind wir alle“, betonte Nopper.

„Wir müssen unseren Optimismus behalten“, bekräftigte Europa-Union-Landesvorsitzende Evelyne Gebhardt. Die Europäische Identität definiere sich über das, was sich die EU über die Jahrzehnte erarbeitet habe: Demokratie, Solidarität, Gerechtigkeit, Freiheit und offene Grenzen. „Das ist das ganz große Gut, das wir verteidigen müssen. Daran arbeiten wir gemeinsam und das freut mich sehr“, so Gebhardt.

Europa im Bundestagswahlkampf
Ernstere Töne schlugen Präsident Rainer Wieland und Generalsekretär Christian Moos an. Mit Blick auf die Europapolitik stehe zwar viel auf dem Papier, konstatierte Wieland. Bei allen Parteien seien aber die Überschriften in den Koalitionsverträgen immer größer geworden und das, was geliefert wurde, immer weniger. Dies müsse sich umkehren. „Wir müssen den Bundestagswahlkampf zum Europawahlkampf machen“, rief Wieland dem Kongress zu. Er wünsche sich, dass insbesondere die parteiungebundenen Mitglieder bei Wahlkampfveranstaltungen den Kandidierenden Fragen zu Europa stellen. Denn wenn Politiker nach einem Thema nicht gefragt würden, hielten sie es nicht für wichtig. Es brauche mehr politisches Personal, das etwas von europäischer Politik verstehe. Sorgen bereitet ihm zudem der wachsende Populismus. „Der Populismus frisst sich immer mehr in Richtung Mitte durch“, warnte Wieland. Häufig würden Sachen gefordert, die nicht ganz ausgegoren seien. Deshalb sei es wichtig, ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das einen Trittstein zwischen Einstimmigkeit und qualifizierter Mehrheit entwickelt und beispielsweise für die Staaten des Balkans, die sich anstrengten, einen vorläufigen Beitritt ermöglicht. Das Jahr 2025 könnte in vielerlei Hinsicht ein Jahr der Entscheidungen für Europa werden, so der EUD-Präsident.

„Wir stehen im Sturm, aber wir stehen“, sagte Generalsekretär Christian Moos und ergänzte: „Wir müssen unbequem sein!“. Mit Blick auf frühere Zeiten, in denen es keine Reibungspunkte zu den bestehenden politischen Parteien gegeben habe, sei dies ungewohnt. Nun müsse man sehen, wie viel Spielraum die unabhängige Zivilgesellschaft noch haben werde, selbst wenn sie noch gefördert würde. Bisher habe die Brandmauer zur AfD gehalten, aber die Dinge seien erheblich in Bewegung. Auch der politische Diskurs verschiebe sich stark. Plötzlich könnten Dinge in der EU beschlossen werden, die vor einigen Jahren noch als unvereinbar mit europäischen Werten betrachtet wurden. Die deutschen Grenzkontrollen, die Schengen aushöhlen, wurden zu einer Zeit eingeführt, in der in Österreich Wahlen anstanden und man wusste, dass das Migrationsthema der FPÖ in die Hände spielt. Die Niederlande wiederum hätten die deutsche Entscheidung einfach nachahmen können. Deutschland habe eine Vorbildfunktion. „Wir befinden uns in einer Lage, wo wir uns in Europa von den europäischen Werten entfernen. Was hier im Moment geschieht, gefährdet Europa“, so Moos. Deshalb gelte es in aller Überparteilichkeit unbequem zu sein.

Beschlüsse
Die deutschen Grenzkontrollen kritisierte auch die neue JEF-Bundesvorsitzende Melanie Thut nachdrücklich und erinnerte an die Ursprünge der JEF. „Wir wollen die Vision, die wir seit 75 Jahren vertreten, Realität werden lassen“, so Thut mit Blick auf das kürzliche JEF-Jubiläum. Im kommenden Jahr wolle die JEF vor Ort in St. Germanshof an den Grenzsturm von 1950 erinnern. „Wenn wir wollen, können wir alle zusammen Geschichte schreiben! Diese Vision müssen wir nach außen tragen“, betonte die JEF-Bundesvorsitzende. „Don’t touch my Schengen“ gelte nach wie vor, bekräftigte auch JEF-Bundessekretär Matthias Meinert. Der Antrag der JEF „Offene Grenzen statt Schlagbäume: Gegen die politische Instrumentalisierung von Schengen“ fand viel Beifall und wurde vom Kongress angenommen.

Der Leitbeschluss des Kongresses „Europäisch denken – europäisch handeln“ fordert ausgehend von der Analyse des Draghi-Reports dringend die Fortführung der europäischen Integration und die Stärkung der Europäischen Gemeingüter verbunden mit europäischen Investitionen. Ein weiterer richtungsweisender Beschuss ist das „Stuttgarter Signal“, das eine Unvereinbarkeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) festlegt. Dieser Beschluss, der nach intensiver Debatte mit einer 4/5-Mehrheit verabschiedet wurde, schlägt den Bogen zum „Kölner Signal“, das 2016 die Unvereinbarkeit mit der AfD regelte.

Europa und die Medien
Ein starker Fokus des Kongresses lag auf dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) und transnationalen Medienkooperationen. Zum Kongressauftakt fand eine Talk-Runde mit dem ARD-Vorsitzenden Prof. Dr. Kai Gniffke, Prof. Dr. Annegret Eppler von der Hochschule Kehl und dem französischen Generalkonsul Gaël de Maisonneuve statt. Gniffke begann seine Ausführungen mit einer Liebeserklärung an Europa. Er gehöre der einzigartigen Generation an, die nur Frieden in Europa erlebt habe. Sein Ziel sei es, Europa allen Menschen zu vermitteln und insbesondere auch junge Menschen ohne Fernseher mit Inhalten auf Instagram, TikTok und der Gaming-Plattform Twitch zu erreichen. Es gebe eine immense Abhängigkeit von wenigen globalen Konzernen, über die 90 Prozent der Internetnutzung laufe. Dies sei ein Marktversagen, gegen das man nur mit Regulierungen auf europäischer Ebene etwas tun könne. Die Bedeutung von ARTE und europäischen Kooperationen wurde von allen Podiumsgästen hervorgehoben. Der Kongress bekräftigte sein Bekenntnis zum ÖRR in einem Beschluss und forderte in einem weiteren, transnationale Medienkooperationen wie ARTE und 3sat zu stärken und (europa-)politische Live-Berichterstattung sowie die Vertretung der Zivilgesellschaft in ÖRR-Gremien sicherzustellen.
Das Thema wurde weiter vertieft im Workshop „Medien und EU-Wahlkampf“ der AG „Europa in den Medien“, in dem auch die mediale Präsenz der #EurHope-Kampagne von EUD und JEF besprochen wurde. Im Workshop „EUD kommunizieren“ der AG Verbandsentwicklung wurden Strategien entwickelt und ausprobiert, mit denen man die Europa-Union bzw. JEF und deren Ziele in wenigen Sätzen in Gesprächen überzeugend präsentieren kann. Große Resonanz fand auch der Workshop „Welt in Aufruhr: Europa und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen“. Hier diskutierten die neue Vorsitzende der EUD-Parlamentariergruppe Prof. Dr. Andrea Wechsler MdEP, EUD-Vizepräsidentin Chantal Kopf MdB, UEF-Vizepräsident Markus Ferber MdEP und Prof. Dr. Thomas Diez von der Uni Tübingen mit den Delegierten über die Außen- und Sicherheitspolitik der EU und das transatlantische Verhältnis.

Schulprojekt
Das inzwischen schon traditionelle Schulprojekt am Vortag des Bundeskongresses fand dieses Jahr in der Kaufmännischen Schule 1 in Stuttgart statt. Rund 90 Berufsschülerinnen und -schüler hatten Gelegenheit, direkt mit drei Politikerinnen aus Baden-Württemberg ins Gespräch zu kommen. Zunächst ging es in mehreren Workshops darum, wie Europa den eigenen Alltag beeinflusst und welche Chancen die EU jungen Menschen bietet. Danach wurden Themen und Fragen für die interaktive Fishbowl-Diskussion erarbeitet. Rede und Antwort standen den Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Europaabgeordnete Prof. Dr. Andrea Wechsler (CDU), die Landtagsabgeordnete Alena Fink-Trauschel (FDP) und die Stuttgarter Stadträtin Lucia Schanbacher (SPD), die im Januar in den Bundestag nachrücken wird. Die Themen reichten von der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse über Sicherheit bis hin zu Migration und der Lage der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen. Darüber hinaus berichteten die Abgeordneten von ihrem persönlichen Weg in die Politik und ihrer Arbeit in den Parlamenten. Den Europa-Aktionstag konzipierte und betreute das Team der EUD-Bundesgeschäftsstelle zusammen mit Ehrenamtlichen aus den Landesverbänden Baden-Württemberg und Berlin.